Abschied.
Die Geschichte einer Beerdigung.
Der kühle Wind streicht über meine schweißnasse Stirn. Der metallische Gesang tost in ohrenbetäubenden Wellen über die Grabeswüste. Klagende Wogen, den Verlust der Mutter und den Schmerz der Hinterbliebenen besingend, verhallen im endlosen, hellblauen, wolkenlosen Himmel.
In der Mitte mahnt die gnadenlos brennende Sonne, die auf unsere kleine, schwarz gekleidete Trauergemeinde scheint. Auf die leicht abgesetzten Steinplatten. Grimmige Gesichter die in den Himmel gucken, für immer den Jahreszeiten ausgesetzt. Endlos, monoton, staubig erstreckt sich die Wüste bis zu den mühsam überlebenden Bäumen. Und noch viel weiter. Und weiter. In alle Richtungen. Ein Friedhof für eine 12 Millionen Menschen Stadt.
Jemand zerrt mich nach vorne und deutet in das Loch. Eine Erinnerung blitzt auf. Augen und Stirn, in Plastik eingewickelt, weiße, leblose Haut. Ich schüttele den Kopf und sie schwebt hinweg. Nicht jetzt.
Die Sonne brennt. Die wenigen Bäume wiegen im Wind. Ihre grünen Blätter rascheln leise. Eine strake Windböe wühlt sie auf, fegt über die Grabeswüste, durch mein Haar, unter den Tschador einer der strenggläubigen Frauen. Der schwarze, dicke Stoff flattert genüsslich wie Wellen auf einer ruhigen See. Wie die gigantische, majestätische schwarze Fahne über dem monströsen Friedhofsparkplatz.

Kleine Wellen spiegeln weiß das Sonnenlicht auf dem pechschwarzen Stoff. Wie ein Tuch in einem Fluss windet sich das gigantische Wesen im Wind, breitet sich aus, bäumt sich auf und fällt wieder in sich zusammen, eine Schlange die sich langsam flussaufwärts windet. Langsame, meditative Bewegungen, der unendlichen Willkürlichkeit des Windes hingegeben, in einer unvorstellbaren Größenordnung.
Sie weht zum Todestag des Ayatollah. Und dem meiner Großmutter. Wie nett. Sie haben eine Fahne für sie auf gehangen. Wir kommen vom Parkplatz. Wir fließen in den Komplex in einem trauernden Strom von schwarz gekleideten, verweinten Menschen. Den Gang entlang, durch spärliche Gärten in die Haupthalle. Tausende Menschen kommen, warten, weinen, rennen, beten, diskutieren und gehen. Die Geräusche verschmelzen auf meinem Trommelfell.

Keine Illusionen. Ich bin ein akzeptierter aber beäugter Fremdkörper.
Massoud läuft vorne mit einem schwarzen Schild in erhobener Hand. Maryam, den Namen meiner Großmutter, lese ich in Farsi. Für sie sind wir gekommen, hierhin zu diesem Ort, in diese Stadt, in dieses verzauberte Land. Wir wandern durch das schwarze Trauermeer. Eine Frau ruft in endlosen Wellen, sie fleht, mit erhobenen Armen, schreit Gott an, Allah, warum hast du ihn schon jetzt genommen, er war doch noch so jung! Er war krank und keiner wusste warum. Sie guckt verloren und verweint gen Himmel, in Trance, und schreit ihren Schmerz in reinster Form ins Gesicht ihres Erschaffers. Warum? Warum?

Weil Gott es will.
Mein Herz wird seziert, ein sauberer Schnitt mit dem Skalpell der Trauer. Keine Gedanken. Nur ihr Schmerz und mein Schmerz und der, der tausenden Anwesenden der sich hier in dieser wundervollen Geste treffen und verschmelzen. Für einen Moment fühle ich mich eins mit allen in unserer verbindenden Sache: Die Hilflosigkeit der Hinterbliebenen, die der Tod einer geliebten Person mit sich bringt.
Als ihre Schreie verklingen schaue ich mich um und versuche zu verstehen was als nächstes passiert. Alles ist ungewiss. Im Chaos wird mir von mehreren Menschen angeboten in den Raum einzutreten in den auch meine Mutter und Massi gezerrt wurden.
Verschluckt. Ins Ungewisse.
Ich ahne was auf mich zukommt und nicke intuitiv, einem Bauchgefühl folgend. Etwas wichtiges wird passieren. Zwei meiner neuen Verwandten reden nachdrücklich mit dem vollbärtigen Sicherheitsmann. Oder Soldat. Oder beides.
Zweimal verneint er, andere Leute kommen und bereden ihn. Schliesslich erbarmt er sich doch, als er erfährt, dass der Enkel extra von weit her angereist ist. Nichts ist wichtiger als Familie.
Er steckt den goldenen Schlüssel ins Schloss und die große Tür öffnet sich langsam. Eine Hand zieht mich hinein. Ich stehe hinter meiner schluchzenden Mutter.
Massi bittet die leicht genervte Frau es nochmal zu öffnen. Meine Ahnung bewahrheitet sich. Auf dem Boden liegt ein länglicher, in weiße Leinen gewickelter Sack. Ein Körper. Die Frau beugt sich nieder und mir wird flau im Magen. Alles zieht sich zusammen, tausende Vorstellungen durchströmen gleichzeitig meinen Geist, mein Herz rast, ich spüre den Schlag in meinem Hals. Badamm. Badamm. Badamm. Die Zeit dehnt sich aus, flexibel wie ein gekneteter Brotteig wird sie langgezogen. Sekunden fühlen sich wie Minuten an. Wie in Zeitlupe öffnet sie die erste Schicht Leinen. Dann die Zweite. Als sie bei der dritten ankommt, schiebt sie das Tuch langsam zur Seite.
Mein Atem setzt aus. Durch eine durchsichtige Plastikfolie, wie Frischhaltefolie, sehe ich eine Stirn und ein Auge, leicht verzerrt. Die Haut ist gleichzeitig straff und faltig, die Haare und die Haut fast weiß. Eine Andeutung darauf was das Tuch verbirgt.
Wie ein Stück Fleisch. Nein. Ein Stück Fleisch.
Und plötzlich erschlägt mich ein Ziegelstein:
Sie ist tot.
Sie. Tot.
Ihre vergängliche Existenz hier ist vorbei, ihr Körper für immer kalt und leblos.
Da liegt ihre physische Manifestation, mein Fleisch und Blut. Ihr Blut fließt in meinen Adern, sie hat mir das Leben geschenkt. Das Bild brennt sich mit einem sengenden Zischen in mein Gedächtnis. Wie ein Brandzeichen auf der Haut einer Kuh. Unvergesslich. Ein Moment für die Ewigkeit.
Massi reißt mich an sich und vergräbt ihr Gesicht an meiner Brust. Ihre Hände halten mich so fest sie kann und bieten mir stumme Unterstützung gegen den Schock. Sie weint und fleht, hält mich beschützend, als könne sie das Geschehene weniger fatal machen, als versuche sie den Schmerz zu teilen. Sie fühlt ihn, meine Mutter fühlt ihn, jetzt fühle auch ich ihn. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, mein Magen ist im Weltall abhanden gekommen und schwebt irgendwo Richtung Jupiter. Ich atme tief ein und tief aus.
Alles um mich herum verschwimmt in einem kreisenden Strudel. Überall ist Licht. Die Stimmen, Massis Körper, das Gesicht. Ich lasse los, gebe mich hin und werde hinaus gezogen, aus der Tür, in die große Haupthalle, bedeutungsschwere Blicke, Umarmungen, Schweigen. Die Kontrolle ist mir vor einer Ewigkeit abhanden gekommen. Ich schwebe, fließe, bin. Sie hieven die Leiche in einen grünen Plastikkoffer, diesen auf eine Trage und wir ziehen weiter. Wir schieben sie, kommen am Ort für Gebete an.
Wir heben sie von der Trage. Ihr Körper ist so schwer, fast fällt er mir runter. Ich hätte nie gedacht, dass Körper so schwer sind. Aber es ist nicht nur sie, die kleine, zierliche Frau, an welche die Erinnerungen mir entfliehen. Die Krankheit wurde so schlimm, ihr Körper füllte sich gegen Ende mit Wasser. Sie und das Wasser. Im Tode eins. Sie muss doppelt so schwer sein wie normal. Der Körper liegt.
Ich ziehe mich zurück.
Alle stellen sich in Reihen auf. An uns zieht eine große, schreiende Gruppe vorbei. Ein Mann ruft ein Lob auf Allah und alle antworten im Chor. Es müssen an die hundert Leute sein. Mehrere Männer tragen die Leiche auf einer Liege, dahinter rennt eine schwarze Traube von voll verschleierten, kleinen Frauen. Sie rennen als würde die Zeit gestoppt. Im Islam muss die Leiche scheinbar so schnell es geht begraben werden, normalerweise mindestens in den ersten 24 Stunden. Denn die Seele will zu Gott, jede Minute, die sie hier behalten wird ist Qual für sie. Jetzt verstehe ich die Eile.
Wir haben nicht genug Männer. Wir sind zu dritt. Deswegen der grüne Koffer und die Trage.
Ein Imam, ein sehr entspannter Herr mit Turban kommt, steckt sich ein Mikrophon ans Gewand und fängt an zu beten. Alle heben die Hände und antworten in unregelmäßigen Abständen. Ich schließe die Augen. Ich habe losgelassen. Dinge passieren. Plötzlich ist das Gebet vorbei, wir rennen wieder. Zum Leichenwagen. Wir rufen, diskutieren und finden den richtigen Wagen. Ich hieve ihre Leiche in das Fach unten rechts. über und neben ihr liegen bereits zwei weiße Mumien, die auf sie gewartet haben. Ihr Körper ist schwer. Mit viel Schwung schiebe ich ihn bis ganz nach hinten. Der Wagen ist voll.
Es fühlt sich schön an so etwas für sie zu tun, ein wichtiger, aktiver Teil der Zeremonie zu sein.


Am Grab angekommen sehe ich eine Gruppe Männer. Sie rennen und rufen und tragen ihren Plastikkoffer auf den Schultern. Hier kommt ihr gehetzte Zeremonie. Ja keine Zeit verlieren. Ihr grüner Plastikkoffer wird auf dem Boden abgesetzt.
Mehr Schreie, Klagen, das durch den Verstärker klirrende Geschrei immer im Ohr. Sie öffnen den Deckel. Jemand legt einen Blumenstrauß und ein Schild auf ihren Körper. Die Frauen knien nieder, streicheln den eingewickelten Körper und weinen und weinen und weinen. In endlosen, schwarzen Mustern spiegeln sich die Laute.
Für ein paar Momente bleibt die Zeit stehen. Ihr Körper im grünen Koffer, neben dem Loch.

Sie holen die in weiße Tücher eingewickelte Leiche heraus. Sie fällt in den Staub, wird aufgehoben und in das Loch gelassen. Ein dumpfes Geräusch. Der in orange gekleidete Mann legt sie zu recht, über sie gebeugt. Seitlich liegt sie, wie ein Embryo. Der Kreis schließt sich. Schweiß läuft seine braun gebrannte Stirn herunter. Er hebt die Löcher aus, wirft die Leichen rein und buddelt sie wieder zu. Tag ein Tag aus. Von morgens bis abends. Auch an Ramadan. Auch ohne zu trinken und zu essen.

Ihr Körper liegt nun da unten. Die schwarzen Engel beugen sich über das Loch, rufen, weinen, flehen. Der Gesang wird zu einem Gebet. Alle antworten im Chor und heben die Hände über den Kopf. Die klagenden Stimmen der schwarzen Engel drehen sich in repetitiven Mandalas gen Himmel, tanzend steigen sie auf, schwer und lethargisch trägt sie der Wind in die Welt der Lebenden. Ein Mahnmal für alle Atmenden, eine Erinnerung daran, dass auch sie eines Tages sterben werden.
Ihre Mandalas werden von der gräulich metallenen, vom Verstärker verzerrten Stimme des Sängers entstellt und übertönt. Er singt kitschige Trauerlieder, Mutter vergib mir, ich liebe dich so sehr. Kitschig und berührend, ich kriege Gänsehaut.
Auch seine Stimme verliert die Haftung zur Realität und taumelt in einer endlosen Spirale durchs schwarze Universum. Der Schmerz im Trommelfell spiegelt den im Herzen wieder.

Alles ist heiß und nah und schmerzhaft. Ich atme stickige, trockene Luft durch meine Nase in meine Lungen. Meine Augenlider schlissen sich und ich recke das Gesicht gen Sonne. Dunkle Farben vermischen sich vor meinen Augenlidern, wogende Ströme durchfließen langsam meinen Körper. Ich visualisiere sie, aber es gelingt mir kaum, ihr Lächeln, ihre Berührungen, ihr Wesen entziehen sich meiner Vorstellung wie ein fliehender Traum im Moment des Erwachens, verzweifelt festgehalten und doch flüchtig vergangen.
Langsam erhebe ich mich vom Boden. Mein schwerer Körper, schweißgebadet, wird leichter. Vor meinem inneren Auge entsteht eine endlose Wüste. Schwarze Geister des Todes fangen an mich fliegend zu umkreisen.

Die Stimme dringt in meinen Kopf. Sie schreit Klagelieder. Sie bohren sich tief in mein Gehirn. Frauen schreien, klagen, rufen. Schmerz bebt durch die Luft, ein Gewitter entlädt sich. Die Blätter der Bäumchen wiegen im Wind. Die türkise Kapelle steht in der staubigen Hitze.
In meiner Brust rotiert ein golden glühender Diamant. Sie hat ihre physische Form verlassen. Sie lebt weiter in mir und irgendwo. Irgendwo anders. Wer weiß wo. Die Winkel meiner Lippen kräuseln sich zu einem traurig vertrauenden Lächeln. Sie ist endlich erlöst. Für sie haben die Schmerzen und das Leiden ein Ende. Sie lebt weiter, in uns und in anderer Form. Der Schmerz in meinem Torso wird von einer Sintflut von Liebe überflutet. Die Dämme brechen. Und endlich erscheinen mir Bilder von ihr. Umarmungen und einem mütterlich liebenden Lächeln erscheinen mir. Alles ist Liebe und Dankbarkeit. In weiten Bahnen ziehen die schwarzen Gestalten ihre Kreise. Die Sonne brennt herab. Die Fatalität über ihren Tod ist verschwunden.
Was bleibt ist Liebe.
